Nein, das Coronavirus ist nicht verschwunden. Dessen waren sich die allermeisten Redner im DG-Parlament am Montagabend einig. Dennoch hat die Gesellschaft es seit der Verhängung des ersten Lockdowns, am 14. März 2020, geschafft, mit dem Virus zu leben. Noch immer gibt es Neuinfektionen, auch von Wellen ist die Rede. Die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem, allen voran auf die Intensivstationen des Landes, sind jedoch beherrschbar geworden.
Nach Jahren der kollektiven Anstrengungen und einschneidender Schutzmaßnahmen kam es am Montagabend im PDG zu einer Art Bestandsaufnahme des Geleisteten. Zwischenzeitlich fühlte sich der Beobachter an die PDG-Sitzungen auf dem Höhepunkt der Coronakrise erinnert. Die Argumente, Bedenken und Fronten wirkten bekannt. Auch der Schlagabtausch zwischen Vivant und den anderen Fraktionen erfolgte wie nach Drehbuch. Und dennoch lieferte die Debatte Einblicke in einen Themenkomplex, der die Gesellschaft wohl noch viele Jahre begleiten wird.
Abkommen musste nach Urteil des Verfassungsgerichts angepasst werden.
Doch der Reihe nach: Das Zusammenarbeitsabkommen zwischen dem Föderalstaat und den Teilstaaten, das am Montag von allen Fraktion außer Vivant verabschiedet wurde, befasst sich mit der Kontaktermittlung von vermutlich mit dem Coronavirus infizieren Personen auf Grundlage einer Datenbank des Sciensano-Instituts für Volksgesundheit. Ein solches Abkommen besteht bereits seit Sommer 2020. Das Verfassungsgericht hatte im Herbst vergangenen Jahres Klagen, unter anderem von Vivant, gegen dieses Abkommen stattgegeben. Daher müssten drei Anpassungen an dem Text vorgenommen werden, erklärte Berichterstatter Gregor Freches (PFF). Eine würde per königlichem Erlass erfolgen, die Abstimmung der beiden anderen Anpassung obliege den Parlamenten des Landes. Einerseits gehe es um eine Präzisierung der Aufbewahrungsfrist von personenbezogenen Daten. Des Weiteren solle künftig nicht nur Sciensano, sondern auch die zuständigen föderalen Verwaltungseinheiten als Verantwortliche für die Datenbanken anzusehen seien.
Das Verfassungsgericht fordert, dass die Anpassungen zum 31. März in Kraft treten müssen. Dies habe wiederum zu Diskussionen im zuständigen PDG-Ausschuss geführt, erklärte Freches. Schließlich sei die Frist, in der der Dekretentwurf behandelt werden musste, sehr kurz. Dies sei auch auf flämische Forderungen zurückzuführen, die anonymisierte Impfquote in verschiedenen Sektoren zu ermitteln und diese in das Abkommen aufzunehmen. „Dies ist sehr kontrovers diskutiert worden, was einige Zeit in Anspruch genommen hat“, erläuterte der PFF-Politiker. Letztlich sei davon abgesehen worden, die Impfquote in das Abkommen aufzunehmen. Diese Frage soll nun Gegenstand eines weiteren Abkommens sein, „das von allen Partnern gebilligt werden muss, aber nur Flandern den Zugriff auf die Daten erlaubt“, erklärte Freches. Zudem habe die Verhandlung und Ausformulierung des Textes eine gewisse Zeit in Anspruch genommen.
Den Einstieg in die Debatte lieferte Jolyn Huppertz (CSP), die forderte „dass mit persönlichen Daten, gerade im Gesundheitsbereich, äußerst vorsichtig umgegangen werden muss“. Zudem sei es wichtig, die Daten so schnell wie möglich wieder zu löschen, „wenn sie nicht mehr genutzt werden“. Wichtig für die Zukunft sei, „die Augen nicht zu verschließen“. Wenn Fragen offen geblieben seien, „müssen wir diese beantworten“.
Das Abkommen sei „wie ein Epilog zu einer sanitären Krise“, betonte Freddy Cremer (ProDG). Erst letzte Woche sei die Maskenpflicht auch in Gesundheitseinrichtungen des Landes gefallen, weshalb die Frage berechtigt sein, warum sich das PDG noch einmal mit einem solchen Thema befasse. Wichtig sei, dass der Verfassungsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit des Abkommens anerkenne, „fordert allerdings Abänderungen und Anpassungen in drei präzisen Punkten“. Genau deshalb sei das PDG nun in der Pflicht, sich noch einmal mit dem Thema zu befassen. Der ProDG-Abgeordnete hob prinzipiell hervor, dass während der Coronakrise alle politischen Entscheidungsträger unter enormem Druck gestanden hätten. Es habe gegolten, individuelle Freiheiten zu gewährleisten und Maßnahmen zu ergreifen, um die Volksgesundheit zu schützen. „Es war ein ständiger Drahtseilakt“, so Cremer. Nur für diejenigen, die Krise geleugnet oder minimiert hätten, „bestand dieses Spannungsfeld nicht“. Allen Schwierigkeiten, Fehlern und Widrigkeiten zum Trotz komme er nach wie vor zu dem Schluss, „dass sich die demokratischen Institutionen in Belgien durchaus als krisenresilient erwiesen haben“. Gerade das angepasste Abkommen sei der beste Beweis dafür.
Vivant-Fraktion sieht sich als Sieger des Urteils und beharrt auf ihren Positionen.
Allesamt Aussagen, die erfahrungsgemäß in der Vivant-Fraktion wenig Anklang finden. Diana Stiel betonte, dass es eine Pflicht des Staates sei, sich an die eigenen Regeln zu halten. Das Urteil des Verfassungsgerichts würde darlegen, dass dies angesichts des fraglichen Abkommens eben nicht der Fall gewesen sei. Dass das Urteil jedoch so lange auf sich habe warten lassen, zeige „im Grunde den eklatanten Missstand im belgischen Gerichtswesen an“. Einmal mehr übte die Vivant-Abgeordnete Kritik an der Einführung des „Covid Safe Ticket“ (CST), das keine wissenschaftliche oder gesetzliche Grundlage gehabt habe und nur implementiert worden sei, um die Impfbereitschaft zu steigern. Zudem habe es datenschutzrechtlichen Standards nicht Genüge getan. Des Weiteren kritisierte sie den Fachkräftemangel in den Krankenhäusern und die Reduzierung von Ressourcen in den Hospitälern. „Belgien gab zu Hochphasen drei Millionen Euro täglich, für PCR-Tests aus. Hätten Sie nur mal das Geld in die Krankenhäuser gesteckt“, so Diana Stiel.
Karl-Heinz Lambertz (SP) hob die „vielen mutigen und resoluten Entscheidungen“ hervor, die in Sachen Pandemiebekämpfung getroffen wurden. „Natürlich ist da nicht alles fehlerfrei gelaufen und natürlich wird man bei einer nächsten Pandemie wohl eher wissen, wie man reagiert“, so der SP-Abgeordnete. In der DG sei „Hervorragendes“ geleistet worden, um die Zahl der Todesfälle so niedrig wie möglich zu halten. „Darum ging es ganz fundamental.“ Lambertz regte an, sich noch einmal intensiver mit den Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Corona-Sonderausschusses zu befassen, um Lehren für die Zukunft zu ziehen. Dies gelte generell auch für die Arbeiten anderer Parlamente und Institutionen. Als notwendig erachte er, dass Urteile des Verfassungsgerichts umgesetzt werden. „Da können wir uns nicht solche Mätzchen wie in Israel erlauben“, spielte Lambertz auf die umstrittene Justizreform in dem Land an. Gleichzeitig sei es auch das Recht eines jeden, gegen Gesetze zu klagen. Als Problem machte er aus, dass Belgien seinerzeit nicht auf ein Pandemiegesetz habe zurückgreifen können. Dieses sei zwar eine Schwergeburt gewesen, das Verfassungsgericht habe aber erst jüngst dessen Verfassungskonformität betont. Nun hätten die Entscheidungsträger im Land eine solidere Grundlage, um im Ernstfall Maßnahmen ergreifen zu können.
Belgien sei während der Pandemie handlungsfähig geblieben, hob Andreas Jerusalem (Ecolo) hervor. Das demokratische System funktioniere, wenngleich es sicher nicht perfekt sei. Der Vivant-Fraktion warf der grüne Abgeordnete Angstmache vor. Angesichts sich möglicherweise entwickelnder neuer Pandemien und Krankheiten „müssen wir Sorge tragen, dass wir operationell bleiben“, schloss er sich seinem Vorredner – im Hinblick auf die Pandemiegesetzgebung und die Möglichkeiten Schutzmaßnahmen ergreifen zu können – an. „Wer A sagt, muss auch B sagen.“
Gregor Freches: „Das Abkommen rettete Leben.“
Gregor Freches richtete in seinem Redebeitrag zunächst den Blick auf die Medien, wo „die Covid-19-Pandemie glücklicherweise nur noch als eine Randnotiz wahrgenommen“ werde. Für eine gefühlte Ewigkeit habe das Virus „die Art und Weise, wie wir zu leben haben“, bestimmt. Angesichts des befürchteten Kollapses in den Krankenhäusern seien rasche Entscheidungen „nicht nur erforderlich, sondern von der breiten Bevölkerung gefordert“ gewesen. Das damalige Abkommen habe „eine dieser notwendigen Entscheidungen“ dargestellt. „Ohne dieses Abkommen wäre es unmöglich gewesen, eine effektive und großangelegte Kontaktrückverfolgung im Falle einer Infektion zu gewährleisten“, fasste er zusammen: „Kurz gesagt: Das Abkommen rettete Leben“. Das Verfassungsgericht habe 95 Prozent des Abkommens gutgeheißen. Wichtig für die Zukunft sei, dass man großen Krisen nicht mehr unvorbereitet begegne. „Ein ‚learning by doing’“ dürfe es nicht mehr geben. Dafür trage auch die Arbeit des Sonderausschusses Sorge, an der sich fünf Fraktionen gewissenhaft und „mit sehr viel Demut“ beteiligt hätte. Mittlerweile sei eine Pandemievorsorge geschaffen worden. In den Augen von Gregor Freches ist das Urteil des Verfassungsgerichts zudem ein Zeichen für eine funktionierende Gewaltenteilung in Belgien.
Gesundheitsminister Antonios Antoniadis (SP) betonte, dass die Gesellschaft derzeit glücklicherweise in einer Situation sei, in der sie das Abkommen eigentlich nicht benötige. Dieser Feststellung seien jedoch Jahre eines Kraftaktes vorausgegangen. Das Urteil des Verfassungsgerichts sei für die Kläger kein Erfolg, „denn sie haben das gesamte Dokument infrage gestellt und stattdessen wurde es bis auf drei Ausnahmen bestätigt“, so der Minister. Ein Erfolg sei es vielmehr für den Rechtsstaat. Er kritisierte Vivant dafür, den Eindruck zu erwecken, dass das Gericht drei Jahre gebraucht habe, um über das Abkommen zu befinden. „Das stimmt faktisch nicht“, so Antoniadis. Es müsse ein unbefriedigendes Gefühl sein, während der Pandemie das Bild einer „Corona-Diktatur“ zu zeichnen, wenn sich nun herausstelle, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Es sei zynisch, Mängel im Gesundheitssystem hervorzuheben, „wenn man gleichzeitig das Tragen einer Maske infrage stellte“, ätzte der Minister in Richtung Vivant. „Dank der Maßnahmen in den letzten drei Jahren stehen wir heute, wo wir sind.“
Die Debatte um Folgen und Lehren aus der Pandemie dürfte im PDG noch häufig geführt werden. Das nächste Abkommen kommt bestimmt.
GrenzEcho am 29.03.2023