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Ostbelgien leben 2040: Langfristiges und visionäres Programm für Ostbelgien

Freddy Cremer hat im März 2024 das neue regionale Entwicklungskonzept stellvertretend für die ProDG-Fraktion kommentiert. Auf Grundlage dieser umfassenden, in einem breiten partizipativen Prozess erarbeiteten Strategie, können wir eine weitsichtige und nachhaltige Politik gestalten, die alle Bürger mitnimmt.

Vor einem Monat präsentierte Ministerpräsident Paasch im Rahmen einer Regierungserklärung dem Parlament die Vision „Ostbelgien leben 2040“, die am 7. März auf einer Regionalkonferenz in St. Vith der breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Macht eine Regierungserklärung zweieinhalb Monate vor den Wahlen zum Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft überhaupt Sinn; denn schließlich vermag keiner das Wahlergebnis zu antizipieren und keiner weiß, welche Mehrheit die Regierungsgeschäfte nach dem Urnengang führen wird?

Diese rhetorische Frage beantworte ich mit einem eindeutigen Ja, denn diese Regierungserklärung unterscheidet sich grundlegend von den üblichen Regierungserklärungen zu Beginn einer Sitzungsperiode, in denen das von einer Koalition ausgearbeitete Regierungsprogramm vorgestellt wird.

Worin liegt der grundlegende Unterschied? In dieser Regierungserklärung  wird die während drei Jahren im Rahmen eines breiten Partizipationsprozesses erstellte nachhaltige und langfristige Regionalentwicklungsstrategie vorgestellt.

Über 7000 Ostbelgierinnen und Ostbelgier waren an der Entwicklung dieser Zukunftsvision beteiligt. Über 7000 Menschen haben sich in zahlreichen Versammlungen, Workshops und Beiträgen mit der grundlegenden Frage beschäftigt: Wie wollen wir im Jahre 2040 in Ostbelgien leben? Das ist die zentrale Frage, unter die sich alle Arbeitsschritte und alle Erkenntnisse dieses Prozesses subsumieren lassen.

In dieser Regierungserklärung werden also nicht die Ergebnisse einer Regierungs- oder Koalitionsklausurtagung präsentiert, sondern die Resultate eines auf Gemeinschaftsebene durchgeführten „kollektiven Brainstormings“ oder einer „dreijährigen Ideenwerkstatt“. Jede Ostbelgierin und jeder Ostbelgier waren aufgerufen, sich an diesem Prozess zu beteiligen.

Im politischen Jargon würde man sagen; es handelt sich um einen Bottom-up-Prozess,und keineswegs um einen Top-down-Prozess. Partizipativer kann man Politik nicht gestalten.

Das über 100 Seiten starke Leitbild ist kein fertiges zukünftiges Regierungsprogramm. Aber es ist ein politisches Navigationssystem, in dem die großen gesellschaftspolitischen Ziele und die langfristigen Visionen für Ostbelgien unter Beteiligung von 7000 Bürgern und Bürgerinnen festgelegt wurden. Zukünftigen Mehrheiten und Regierungen obliegt es nun, Regierungsprogramme zu entwerfen, die schrittweise dazu führen, bis 2040 diese Ziele zu erreichen.

Ministerpräsident Paasch hat in der letzten Plenarsitzung die übergeordneten neun Leitziele dieser regionalen Entwicklungsstrategie präsentiert. Daher muss ich das an dieser Stelle nicht ein weiteres Mal wiederholen.

Ich werde in der kurzen Zeit, die mir für diese Stellungnahme zur Verfügung steht, lediglich auf einige allgemeine Aspekte dieser auf einer regionalen Entwicklungsstrategie fußenden Politik eingehen.

Zuerst möchte ich mit Nachdruck betonen, dass für jede Regierung, die das Allgemeinwohl nicht nur verwalten, sondern kreativ und innovativ gestalten möchte, eine solche langfristige Entwicklungsstrategie eine unumgängliche Gelingensbedingung ist.

Wer sich nicht an einem visionären Leitbild orientiert, läuft sehr schnell Gefahr, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen und sich in Einzelheiten und Detailfragen des politischen Alltagsgeschäftes zu verlieren.

Die oft geäußerte Kritik, dass Regierungen nur allzu oft im engen Zeitkorsett von Legislaturperioden handeln, ist mehr als berechtigt. Dass sich die großen gegenwärtigen Herausforderungen – ich nenne nur beispielhaft die Maßnahmen gegen den Klimawandel, der demographische Wandel, eine langfristige und nachhaltige Raumordnungs-, Energie- und Wohnungspolitik, Bildungsgerechtigkeit, Fachkräftemangel, Digitalisierung…- nicht in Legislaturen lösen lassen, wird jedem einleuchten.

In den letzten drei Legislaturen orientierte sich die gesamte Politik in unserer Gemeinschaft an der 2009 in einem breiten Beteiligungsprozess erarbeiteten regionalen Entwicklungsstrategie „Ostbelgien leben 2025“. Und ich hoffe, dass die darauf aufbauende Vision „Ostbelgien leben 2040“ ebenso zum gemeinsamen politischen Nenner zukünftiger Koalitionen wird.

Die globalen Herausforderungen erfordern langfristige und nachhaltige Lösungsstrategien, die im Idealfall unabhängig von politischen Mehrheiten und jenseits aller politischer Scharmützel konsequent umgesetzt werden.

Langfristige politische Ziele und Visionen, die wie im vorliegenden Fall von über 7000 Menschen aus der Deutschsprachigen Gemeinschaft festgelegt wurden, sollte von jeder zukünftigen Regierung als gesellschaftlicher Auftrag verstanden werden. In der konkreten Umsetzung, ich könnte sagen im operativen Geschäft, mag es durchaus Differenzen geben, aber an der strategischen Ausrichtung sollte festgehalten werden.

Diese Form von politischer Gestaltung setzt auch in unserer kleinen Gemeinschaft bei vielen politischen Akteuren ein Umdenken und ein anderes Verständnis von Politikgestaltung voraus.

Nicht das eigene Parteiprogramm, sondern die übergeordneten Leitziele der Entwicklungsstrategie sollten das Primat in der Politikgestaltung haben. Politikgestaltung sollte sich nicht an ideologischen Parteiprinzipien oder an parteipolitischen taktischen Manövern  orientieren, sondern an pragmatischen und wissenschaftlich fundierten Lösungsstrategien.

Ich habe schon wiederholt an diesem Rednerpult das Regionale Entwicklungskonzept (REK) mit einem Legislatur übergreifenden politischen Navigationssystem verglichen. In diesem „Navi“ sind die langfristigen politischen Ziele in allen Zuständigkeitsbereichen festgelegt. Es wäre aber falsch, ein REK mit einem starren, in Stein gemeißelten politischen Dogma gleichzusetzen. Im Gegenteil, erforderliche Anpassungen können jederzeit vorgenommen werden. Nur dank einer langfristigen Strategie besteht im Bedarfsfall ausreichend Flexibilität.

Dies ist besonders in Krisenzeiten der Fall, beispielsweise als sich nach 2008 auch in unserer Gemeinschaft die Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise negativ auswirkten. Erneut zeigte sich dies in der laufenden Legislatur, als wegen der Covid-19-Pandemie, der Flutkatastrophe und infolge des Ukraine-Krieges wichtige Kurskorrekturen vorgenommen werden mussten. Dabei ist die Regierung aber zu keinem Zeitpunkt aus der Spur geraten; die langfristigen Ziele wurden zu keinem Zeitpunkt fallen gelassen.

Ich bin davon überzeugt, dass nur dank der Existenz dieses REK die Regierung trotz der multiplen Krisen der vergangenen Jahre nicht in einen orientierungslosen Zickzackkurs verfallen ist, sondern dank dieses politischen Kompasses die langfristigen Ziele nie aus dem Blick verloren hat und gleichzeitig wichtige Maßnahmen zur Krisenbewältigung umgesetzt werden konnten. Trotz effizientem Krisenmanagement hat sich die Regierung zu keinem Zeitpunkt in ein Krisenkorsett zwängen lassen.

Auch bin ich der Meinung, dass eine langfristige regionale Entwicklungsstrategie einen wesentlichen Beitrag zur demokratischen Resilienz leisten kann. Gerade in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche und großer Transformationsprozesse ist es wichtig, dass nachvollziehbare Strategien entwickelt werden, die eine klare Antwort auf diese großen Herausforderungen sind. Nur so kann das Vertrauen in die Politik erhalten bleiben.

Ich wiederhole das, was ich einleitend gesagt habe. Es ist von essenzieller Bedeutung, dass möglichst viele Menschen an der Erstellung eines regionalen Leitbildes aktiv beteiligt und bei der schrittweisen Umsetzung der Leitziele ebenso eingebunden werden.

Von der Konzeptarbeit bis zur kooperativen Konkretisierung der einzelnen Projekte ist Bürgerbeteiligung der wichtigste Schlüssel zum Erfolg. Eine regionale Entwicklungsstrategie, die diesen Namen verdient, wird nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entwickelt, sondern nur mit ihnen gemeinsam entworfen und mit ihnen gemeinsam umgesetzt.

Die Erarbeitung eines regionalen Entwicklungskonzepts braucht eine fundierte wissenschaftliche Basis. Mit externer Unterstützung wurde zu Beginn dieses Prozesses im Jahre 2008 eine sogenannte SWOT-Analyse, d.h. eine Analyse der Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken der Deutschsprachigen Gemeinschaft vorgenommen.

Und auch die zweite ostbelgische Entwicklungsstrategie, die in der Kontinuität der ersten steht, fußt auf einer aktualisierten Analyse der ostbelgischen Gegebenheiten, in der den aktuellen globalen Herausforderungen, wie beispielsweise den multiplen Auswirkungen des demographischen Wandels, der Digitalisierung, des Klimawandels, des Arbeitskräfte- und Fachkräftemangels… besondere Aufmerksamkeit zuteilwird.

Diese wissenschaftliche Begleitung ist in allen Politikbereichen erforderlich für die Gestaltung einer zielgerichteten Politik. Auch hier nenne ich nur beispielhaft den OECD-Bericht und andere Gutachten zur Entwicklung einer Bildungsvision in der DG, den zweiten Jugendbericht für eine zielgerichtete Jugendpolitik, das Fachgutachten zur Raumstrategie, über das wir in der letzten Plenarsitzung diskutiert haben, oder die Studie des WSR zur Digitalisierung in Ostbelgien.

All diese Gutachten zu spezifischen politischen Themenfelder sind von grundlegender Bedeutung und betten sich ein in die Gesamtstrategie „Ostbelgien leben 2040“. Ohne diese wissenschaftliche Expertise wären die politischen Entscheidungsträger in Ostbelgien im „Blindflug“. Die Entwicklung einer Zukunftsvision für Ostbelgien hat nichts mit einer Zukunftsimprovisation zu tun.

Nur eine Entwicklungsstrategie ermöglicht eine kohärente, intergenerationelle und sich am übergeordneten Prinzip der Nachhaltigkeit orientierende Politikgestaltung.

Die Feststellung, dass diese Entwicklungsstrategie sich an den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen orientiert, belegt, dass die nachhaltige Entwicklung in deren sozialen, wirtschaftlichen und umweltbezogenen Aspekten unter Berücksichtigung der Solidarität zwischen den Generationen in diesem ostbelgischen Leitbild von übergeordneter Bedeutung ist. In Artikel 7bis der belgischen Verfassung wird dies übrigens als übergeordnete Maxime des politischen Handels festgeschrieben.

Werte Kolleginnen und Kollegen, diese regionale, langfristige und nachhaltige Entwicklungsstrategie ist ein solides Fundament, auf dem eine zukünftige politische Mehrheit ein langfristiges und visionäres Regierungsprogramm für Ostbelgien entwerfen kann.

 

Freddy CREMER (ProDG-Fraktion)

PDG, 25. März 2024