Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen aus Regierung und Parlament
Das Thema der Raumordnung hat diese Legislatur wie kaum ein anderes politisches Thema maßgeblich geprägt.
Die Übertragung der Raumordnung, des Wohnungswesens und Teile der Energiepolitik von der Wallonischen Region an die Deutschsprachige Gemeinschaft kann durchaus als Meilenstein in der Autonomieentwicklung unserer Gemeinschaft.
Es handelt sich um Befugnisse mit einem ungeheuer großen Gestaltungspotenzial. Wohnungswesen und Raumordnung sind zwei grundlegende Zuständigkeiten, ohne die sich eine Region nicht wirklich als Region konstituieren kann.
Im 2. Band des Regionalen Entwicklungskonzepts wird dies herausgestellt: „Um die Deutschsprachige Gemeinschaft dauerhaft als konstituierenden Bestandteil des belgischen Staates verankern und als europäische Region weiter entwickeln zu können, muss die Zuständigkeit in den Bereichen Raumordnung und Wohnungswesen auf die Deutschsprachige Gemeinschaft übertragen werden.“ (Band II, S. 86)
Einleitend möchte ich die heutige Diskussion über die Regierungsmitteilung zur Fortsetzung der Reform der Raumordnung verorten. Seit nunmehr über vier Jahren ist die Deutschsprachige Gemeinschaft für die Ausübung der Raumordnung zuständig.
Auch der Transfer der Raumordnung erfolgt nach einem altbewährten Schema in drei Etappen, die man mit den Begriffen „Übertragung“, „Übernahme“ und „Gestaltung“ beschreiben kann.
Die erste Etappe war die Übertragung gemäß dem in Artikel 139 der Verfassung festgeschriebenen Prozedere.
Noch bevor die Gemeinschaft für die Ausübung der neuen Zuständigkeit verantwortlich zeichnete (also ab dem 1. Januar 2020) wurde durch das Programmdekret im Herbst 2019 die Übernahme der neuen Befugnis geregelt. In dieser Phase ging es vorrangig darum, die Kontinuität im Sinne der Rechtsnachfolge und der Rechtssicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig wurden kleinere terminologische, technische und inhaltliche Anpassungen vorgenommen.
Die alles entscheidenden Etappe ist die dritte, in der es darum gehen wird, die neue Zuständigkeit zu gestalten. Was für andere Zuständigkeitsübertragungen gilt, gilt auch für die Raumordnung. Die Übertragung ist kein Selbstzweck; sie ist lediglich ein Mittel zum Zweck. Worin besteht dieser übergeordnete Zweck? Die neue Zuständigkeit muss in dieser dritten und entscheidenden Phase so innovativ und kreativ gestaltet werden, dass ein echter Mehrwert für die Bevölkerung unserer Gemeinschaft durch die Übertragung entsteht.
Diese Position ist keineswegs neu. Als beispielsweise in einer Resolution vom 6. Mai 2002, also vor mehr als zwei Jahrzehnten, die Übertragung der Raumordnung mit der „geschichtlichen, geographischen, sprachlich-kulturellen und sozio-Ökonomischen Sonderstellung der DG“ begründet wurde, ging damit die Überzeugung einher, dass die Übertragung dieser Befugnis zu „einer kohärenteren, effizienteren und effektiveren Politik führen wird.“ Darauf, und nur darauf, kommt es an. Dieser zu schaffende Mehrwert ist damals wie heute das einzige Kriterium, an dem sich der Erfolg einer solchen Kompetenzübertragung messen lassen muss. Doch dazu bedarf es ausreichend Zeit und einer großen Expertise.
Die Übernahme der neuen Zuständigkeit ist keine Bürde, sondern eine Chance, die es zu ergreifen gilt. Das sehen auch die Autoren des Fachgutachtens so. „Durch die oben beschriebene Übernahme der Zuständigkeit hat die Deutschsprachige Gemeinschaft die einmalige Chance für eine Neudefinition ihrer raumordnerischen Leitvorstellungen sowie für eine neue Raumordnungsgesetzgebung und die Neuaufstellung der damit zusammenhängenden (Verwaltungs-)Strukturen und – Verfahren. |…| Bei dem geplanten Gesetzgebungsverfahren geht es bewusst nicht um eine Fortschreibung des GRE (Gesetzbuch über die räumliche Entwicklung) in der Deutschsprachigen Gemeinschaft, sondern um die Neuaufstellung eines zukünftigen Gesetzes. Es hat inhaltliche und prozessuale Antworten auf die drängenden raumrelevanten Herausforderungen zu liefern.“ (S.10)
Oder, um es in einer biblischen Sprache zu sagen. Es geht nicht darum, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen. Es geht nicht darum, eine neue Sache, d.h. eine moderne Raumordnungsgesetzgebung und eine von den Autoren des Gutachtens empfohlene „neue Raumordnungsphilosophie“ (Seite 13), in eine alte Verpackung, sprich das bestehende GRE, zu pressen.
Die Rauordnung ist par excellence eine querschnittsorientierte Zuständigkeit, alle Lebensbereiche und alle Menschen in Ostbelgien sind davon betroffen.
Beispielhaft nenne ich nur den Wohnungsbau, das Erscheinungsbild unserer Dörfer und Städte, den Flächenbedarf für die landwirtschaftliche und die industrielle Nutzung, die Energieversorgung, die Wirtschaft und die Unternehmen, die Mobilität, die Tourismusdestination Ostbelgien mit dem Anspruch einer naturnahen Erlebnisregion, den Klimaschutz, den Natur-, Umwelt- und Landschaftsschutz…
Wie soll die dauerhafte Nutzung des 854 km² großen ostbelgischen Lebensraums für 78.000 Bewohner unserer Gemeinschaft gestaltet werden? Dies ist die der Raumordnung übergeordnete Frage. Dabei liegt die intergenerationelle Verantwortung auf der Hand. Die Entscheidungen, die wir heute treffen, bedingen nicht nur unsere, sondern auch die Lebensqualität zukünftiger Generationen.
Und diese globale Verantwortung wird noch einmal potenziert, wenn man bedenkt, dass viele Entscheidungen im Bereich der Raumordnung irreversibel sind.
Alle Fraktionen in diesem Hause müssen sich ihrer großen Verantwortung bewusst sein, wenn in der kommenden Legislatur ein Leitschema für die Raumgestaltung in der DG verabschiedet wird.
Dieses hohe Maß an Verantwortlichkeit wird von allen Entscheidungsträgern in Art. 7bis der belgischen Verfassung eingefordert. Ich zitiere diesen kurzen Artikel:
„Der Föderalstaat, die Gemeinschaften und die Regionen verfolgen bei der Ausübung ihrer jeweiligen Befugnisse die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung in deren sozialen, wirtschaftlichen und umweltbezogenen Aspekten unter Berücksichtigung der Solidarität zwischen den Generationen.“
Das Konzept der Nachhaltigkeit umfasst drei gleichwertige, überlebenswichtige Interessen, die sich gegenseitig ergänzen. Diese sind: die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, ein starker Wirtschaftsstandort und die soziale Gerechtigkeit.
Diese drei Säulen finden sich in den von den Autoren des Gutachtens definierten acht Zielen der ostbelgischen Raumordnung wieder.
Legt man diese langfristige Perspektive zugrunde, ist es durchaus nachvollziehbar, dass nicht noch wenige Monate vor Ende der Legislatur holterdiepolter versucht wird, mit der parlamentarischen Brechstange eine Raumstrategie durchs Parlament zu jagen.
Mit dem vorliegenden Fachgutachten zur Raumstrategie werden die gemeinschafts- und kommunalpolitischen Entscheidungsträger nach den Wahlen von Juni und Oktober 2024 über eine solide Basis verfügen, um dann im Verbund mit allen relevanten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren eine nachhaltige und solide Raumstrategie auf den Weg zu bringen.
Allein schon die Feststellung, dass der Raum eine begrenzte Ressource ist, und die summarische Auflistung der Aufgabenfelder machen deutlich, dass die Raumgestaltung durchaus großes Konfliktpotential birgt, zumal manchmal diametral entgegengesetzte Interessen und Meinungen aufeinanderprallen können.
Die hat es durchaus auch schon in Ostbelgien gegeben, wenn beispielsweise Windkraftanlagen errichtet oder Gewerbeflächen erweitert werden sollten. Dass Interessenkollisionen möglich sind, zeigten aber auch die Anhörungen, die es in den letzten zwei Jahren im Rahmen der Diskussionen über die Orientierungsnote Raumordnung und die Anpassung des GRE gegeben hat.
Die aus dem Konfliktmanagement bekannte Handlungsmaxime findet auch hier Anwendung: Die beste Art mit Konflikten umzugehen ist immer – sie erst gar nicht entstehen zu lassen. Daher ist die von den Autoren des Gutachtens gestartete Bürgerbeteiligungsoffensive von zentraler Bedeutung.
Es ist eine wichtige Gelingensbedingung für den raumgestalterischen Prozess in unserer Gemeinschaft, dass dieser von Anfang an als umfassender Beteiligungsprozess konzipiert war und noch immer wird.
Jeder muss mit ins Boot geholt werden. Auch dies ist ein weiterer wesentlicher Grund dafür, dass nicht noch rasch vor Ende der Legislatur eine Raumordnungsstrategie verabschiedet wird. Das Gutachten ist auf der Grundlage eines breiten Konsultationsprozesses gewachsen. Es wäre fatal, wenn in der bedeutenden Entscheidungsphase diese partizipative Vorgehensweise wegen der nur noch kurzen Zeitspanne, die bis zu den Gemeinschaftswahlen verbleibt, nicht mit den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren fortgesetzt würde.
Was als partizipativer Prozess mit der Präsentation der Orientierungsnote im Oktober 2020 begonnen hat, muss auch als Beteiligungsprozess zu Ende gebracht werden. Und das wird dann eben erst in der kommenden Legislatur der Fall sein.
Bedenkt man, dass die Raumordnung auf fast alle Lebensbereiche der Menschen ausstrahlt, ist es nur folgerichtig, dass die Arbeiten an der Erstellung eines langfristigen und nachhaltigen Leitbildes zur Raumordnung mit dem Prozess der Erstellung einer ostbelgischen Zukunftsvision, die unter dem Namen „Ostbelgien leben 2040“ firmiert, eng verzahnt werden.
Daran haben sich in den zurückliegenden zwei Jahren viele Organisationen, Akteure aus der Zivilgesellschaft und viele Bürgerinnen und Bürger beteiligt.
Ich bin gespannt, wenn in wenigen Tagen in St.Vith im Rahmen einer Regionalkonferenz das neue Leitbild „Ostbelgien leben 2040“, das an die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen gekoppelt ist, vorgestellt wird.
Die diesem Leitbild zugrunde liegende Vision wird die Entwicklungs- und Raumstrategie maßgeblich bedingen.
Erinnern möchte ich daran, dass zeitgleich über eine Reform des öffentlich geförderten Wohnungsbaus in Ostbelgien in diesem Haus beraten wird. Zwischen all diesen Themenfeldern besteht ein großer inhaltlicher Konnex.
In der ersten Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislatur hob Ministerpräsident Paasch hervor, dass das urdemokratische Prinzip der Subsidiarität für eine zukunftsfähige Gemeinschaft von übergeordneter Tragweite sei. Dabei fällt den Gemeinden eine besondere Bedeutung zu. In derselben Regierungserklärung vom 16. September 2019 kündigte er auch an, dass eine Task Force zum Bürokratieabbau eingesetzt werde. Da, wo möglich, sollen Verwaltungsabläufe vereinfacht und Verwaltungsaufwand abgebaut werden.
Gerade in der Gestaltung der Raumordnung können Gemeinschaft und Gemeinden ganz neue Formen der Kooperation entwickeln. Dies erfordert aber auch, dass die jetzige Form der Zusammenarbeit und der Aufgabenverteilung zwischen der Gemeinschaft und den neun Gemeinden auf den Prüfstand muss.
Werte Kolleginnen und Kollegen, die von Minister Antoniadis angekündigte Reform, die vorsieht, dass im Bereich der Raumordnung noch vor Ende dieser Legislatur die Gemeindeautonomie erheblich gestärkt und die Genehmigungsverfahren bei Bauanträgen zeitlich verkürzt und administrativ vereinfacht werden sollen, stärkt die Eigenverantwortung der Gemeinden, leistet einen wesentlichen Beitrag zum Bürokratieabbau und erhöht für alle Beteiligten die Transparenz in diesem komplexen Bereich.
Damit dies gelingt, müssen einerseits die Rollen und Aufgaben von Gemeinschaft und Gemeinden klar definiert sein und müssen die Gemeinden über ausreichend Fachpersonal in diesem Bereich verfügen.
Ausdrücklich wird in der Regierungsmitteilung festgehalten, dass die Gemeinschaftsebene allgemeine Rahmenbedingungen schaffen muss, die Gemeinden bei der Erstellung der eigenen Regelwerke unterstützen und die Aufsicht über die Einhaltung dieser Regelwerke ausüben muss.
Herr Minister, wir nehmen Sie beim Wort, wenn Sie in ihrer Regierungsmitteilung sagen, dass im Vorfeld dieser weiteren bedeutenden Novellierung der Raumordnungsgesetzgebung in einer sogenannten Phase II bis eine Konsultierung mit den Gemeinden und weiteren Experten stattfinden wird, um dieses Reformvorhaben unter die parlamentarische Lupe zu nehmen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, mit der Vorlage des Gutachtens wird, wenn ich es so ausdrücken darf, die „heiße Phase“ der Diskussionen über ein neues Leitschema der Raumordnung in Ostbelgien eingeläutet.
Die Diskussion ist keineswegs beendet; sie hat gerade erst an Fahrt aufgenommen.
Die ProDG-Fraktion wird sich auch in der neuen Legislatur nach Kräften an diese Diskussionen beteiligen.
Freddy CREMER (ProDG-Fraktion)
PDG, 26. Februar 2024